Ein Ausblick aus dem Seminar “Evolution der Religion“, das ich im letzten Jahr gemeinsam mit Carel van Schaik und Kai Michel gegeben habe:
Die fünfte Welle
Es gibt keine menschlichen Zivilisationen in Geschichte und Gegenwart, die nicht über Religion verfügen. Es scheint, als gehöre Religion zu den Grundgegebenheiten menschlichen Zusammenlebens. Sie hat sich in ihrer Geschichte grundlegend verändert, in der sich vier Wellen unterscheiden lassen. Was ist die fünfte, die wir für die Zukunft in Europa zu erwarten haben?
Die Religionsgeschichte ist so alt wie die Menschheit und sie ist so dynamisch wie deren Geschichte. Gegenwärtig rechnet man damit, dass 85% der Weltbevölkerung religiös aktiv ist, Tendenz steigend. Soweit dies die ethnographische, anthropologische und archäologische Forschung feststellen kann, gibt es zwar Individuen, aber keine Gesellschaften oder Völker ohne Religion, die sich bislang als in beständigem Wandel gezeigt hat.
Die Evolution der Religion verläuft nicht als linearer Prozess, sondern es wechseln sich Phasen grundsätzlichen Beharrens mit grossen qualitativen Sprüngen ab. Sie lässt sich nach unterschiedlichen Kriterien gliedern. Innerhalb desjenigen Strangs, der auf das Judentum, das Christentum und den Islam geführt und in Europa dominant geworden ist, lassen sich vier Wellen unterscheiden. Was könnte sich daran als eine fünfte Welle anschliessen?
Die frühesten Jäger- und Sammlerkulturen rechneten mit der Beseeltheit der Natur. Diese Religionsform wird als Animismus bezeichnet. Für die Jäher und Sammler gab es keine Ereignisse, nur Handlungen. Was immer geschah, wurde auf bestimmte Akteure zurückgeführt, egal ob sie zur natürlichen oder zur übernatürlichen Sphäre gehören. Diese religiöse Konditionierung der frühen Menschen war ein Überlebensvorteil: Raschelte es im Gras, konnte dies zwar Zufall sein, aber es war besser anzunehmen, es handle sich um einen Löwen. In moralischer Hinsicht waren diese Kulturen durch eine ausgesprochen altruistische Sozialstruktur geprägt: Wer mit Nahrung nach Hause kam, teilte diese. Denn diese konnte zum einen nicht aufbewahrt werden, zum anderen war die Gesellschaft auf das Teilen angewiesen. Niemand konnte sicher sein, heute und morgen auf der Jagd erfolgreich zu sein. Wer gab, erhielt das nächste Mal, und wer erhielt, gab das nächste Mal.
Die animistische Prägung der Jäger und Sammler veränderte sich grundlegend mit der Sesshaftwerdung der Menschen und dem Aufkommen der Landwirtschaft um 10 000 v.Chr. Sie markiert die erste Transformationswelle der Religionsgeschichte. Die Bauern und Viehzüchter waren nicht mehr darauf angewiesen, von der Hand in den Mund zu leben. Sie könnten Güter akkumulieren, ja sogar reich werden. Damit entstanden Ungleichheit und zwangsläufig auch soziale Spannungen. Diese verschärften sich mit dem Aufkommen der ersten Städte ab 6000 v.Chr. Die Sozialsysteme wurden komplexer, und entsprechend wandelten sich auch die religiösen Vorstellungen. Die soziale Stratifizierung der menschlichen Welt zog eine entsprechende Schichtung der Götterwelt nach sich. Es ist eine Grundregel der Religionsgeschichte, dass sich Menschen die göttliche Sphäre in Analogie zu ihrer eigenen Welt denken. Die Anthropologen sprechen hierbei vom „mirror principle“. In einer Monarchie wird auch die Götterwelt als Monarchie strukturiert gedacht. Der höchste Gott herrscht als König über die niederen Götter. Kennt eine Gesellschaft eine Arbeitsteilung, so wird dies auch auf die Götter projiziert: In den entsprechenden Panthea findet sich ein Schreibergott, ein Wettergott, ein Gott der Schmiede, die unterschiedlichen Berufssparten sind durch unterschiedliche Gottheiten abgedeckt. So entstanden nach den Geistern des Animismus die „Big Gods“ in der Religionsgeschichte, die nun häufig auch – einzeln oder im Verbund – moralische Aufgaben wahrnahmen: Sie sicherten die Funktionalität der komplexen und mehr und mehr anonymen menschlichen Sozialsysteme über Forderungen, Strafen, Wohltaten, die sie den Menschen in Aussicht stellen. Damit wurde die verlorene hypersoziale Ordnung der Jäger- und Sammlerkulturen kompensiert, die aufgrund der Volatilität der täglichen Versorgung auf ein freiwilliges Geben und Austeilen angewiesen war. Natürlich kann man nicht davon ausgehen, dass die „Big Gods“ eignes zu diesem Zweck erfunden wurden, aber es wuchs ihnen die Aufgabe zu, die Menschen zu prosozialem Verhalten anzuhalten. Religiöse Vorstellungen lassen sich für ihre Entstehung nicht auf ihre Funktionen reduzieren, doch ihre Funktionalität sichert ihren Bestand.
Die zweite Welle der Religionsgeschichte fällt in den Zeitraum, den man seit Karl Jaspers gerne als „Achsenzeit“ bezeichnet. Im östlichen Mittelmeerraum entstand im 6. Jahrhundert v.Chr. das Judentum, die spätere Mutterreligion des Christentums und des Islams. Das Judentum ist die erste sekundäre Religion der Weltgeschichte, die sich von den Naturreligionen oder primären Religionen grundsätzlich unterscheidet: Mit der Konzipierung eines religiösen Systems, das nicht vorrangig auf der Extrapolation natürlicher und sozialer Gegebenheiten, sondern auf bestimmten Glaubensinhalten beruhte, fand eine grundlegende Veränderung statt. Gott ist nun nicht mehr einfach derjenige, der Regen spendet, die Natur spriessen lässt und den König vor Feinden schützt, sondern er wird als diejenige Macht gedacht, der die Welt erschaffen hat, der Israel aus Ägypten herausgeführt hat und ihm das Heilige Land versprochen hat. Diese Religion ist nicht mehr als Überbau bestimmter politischer Verhältnisse bestimmt, sondern entwickelt eine ganz selbständige geistige Welt. Das Judentum kennt deshalb auch einen Religionsstifter wie Mose, der die entsprechenden Glaubensüberzeugungen erstmals formuliert haben soll. So stellt es jedenfalls die heilige Schriften des Judentums, die Bibel, dar. Historisch gesehen handelt es sich dabei um eine sekundäre Zuschreibung aus der Zeit des babylonischen Exils. Analog haben später das Christentum Jesus und der Islam Mohammed als ihre Religionsstifter konzipiert.
Die dritte Welle besteht in der spätantiken Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs in das Judentum und das Christentum. Dieser Prozess begann im 2. Jh. n.Chr. und verstärkte sich nachhaltig in den nachfolgenden Jahrhunderten. Im Hochmittelalter war die Bearbeitung der religiösen Traditionen im Geiste des Aristotelismus gleicherweise im Judentum, im Christentum und im Islam beheimatet. Dass Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit sei, dass er das perfekte Sein verkörpere, dass er das höchste Gut darstelle, alle diese Zuschreibungen stammen vorrangig aus der Philosophie, nicht aus der Bibel oder dem Koran. Die Religion suchte so die Koalition mit den menschlichen Denkanstrengungen und stellte sich deren Wahrheitsansprüchen. Soziologisch gesprochen wurde die Religion nicht als Sekte, sondern als Staats- oder Volksreligion entworfen, die den geistigen Standards der Zeit zu genügen hatte. Fortan hatte sich die Religion daran messen zu lassen, ob sie intellektuell konkurrenzfähig sei mit andere Deutungsangeboten für die Wirklichkeit. Oft genug haben Macht und Gewohnheit diesen Wettbewerb zugunsten der Religionen beeinträchtigt, doch der Anspruch als solcher blieb bestehen. Im Falle des Christentums hat die Theologie mir ihrem Willen, die Welt insgesamt und ohne funktionales Interesse zu verstehen, den bislang erfolgreichsten Exportartikel Europas geschaffen: Die Universität, die eine Schöpfung des christlichen Mittelalters darstellt. Wo immer eine universitäre Bildungseinrichtung auf dem Globus geschaffen wird, sei es in Myanmar, in Grönland, in Peru oder in Lesotho, es geschieht nach dem Modell der europäischen Universität.
Die vierte Welle wird durch den Beginn der Neuzeit markiert. Mit der Aufklärung emanzipierte sich das menschliche Denken nach und nach von der geistigen und sozialen Kontrolle der Religionsgemeinschaften und Religion wurde, zumindest in der westlichen Welt, weitgehend zur Privatsache. Jeder hat nach seiner eigenen Façon selig zu werden, so formulierte es der Preussenkönig Friedrich der Grosse. Das Individuum wurde zur entscheidenden Bezugsgrösse der Religion. Die Aufklärung radikalisierte die Problematik der zweiten Welle der Religionsgeschichte: Sollen die Religionen den Weg mit der oder gegen die Vernunft gehen? Beantwortet haben sie sie durchaus unterschiedlich: Der Protestantismus zeigte sich etwa offener als der Katholizismus, das Christentum kritischer als der Islam, wobei die einzelnen Strömungen in den Religionen oft ein sehr breites Spektrum abdecken, wie etwa die Bewegung der Haskala (der Aufklärung) im Judentum zeigt. Einzelne Gruppierungen fingen an, geistige Parallelwelten auszubilden: Was in der eigenen Religionsgemeinschaft gilt, muss nicht für die Welt draussen zutreffen und umgekehrt. In den grossen Konfessionen des westlichen Christentums ist dagegen in Europa auf der Ebene der offiziellen Theologie die Öffnung gegenüber der wissenschaftlichen Kritik erfolgreich durchgesetzt worden. Man darf, ja man muss die Bibel lesen wie jede andere Literatur auch. Jede Pfarrerin und jeder Pfarrer muss über ein akademisches Studium verfügen. Seinen Weg in die Kirchen hat das kritische Denken allerdings nur in begrenztem Mass gefunden. Die Auseinandersetzung der Religion mit der Aufklärung ist ein laufendes Projekt. An der künftigen Gestaltung dieser Beziehung wird sich entscheiden, ob wir in Zukunft eher eine gepflegte oder eine ungepflegte Religion in unseren Breitengraden haben werden. Empirisch als Irrglaube hat sich allerdings die Auffassung des 19. Jahrhunderts erwiesen, dass Religion mit zunehmender Technisierung und weiteren Errungenschaften der Wissenschaft alsbald absterbe. Anfangs des 20. Jahrhunderts rechnete man mancherortens mit dem Verschwinden der Religion binnen weniger Jahrzehnte. Heute ist deutlich geworden, dass es religiöse Bestände und Überzeugungen gibt, die fortschrittsunabhängig sind. Die Zufälligkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz wird auch die Technik nicht aufheben können. Im Rückgang befindlich ist die institutionalisierte Religion, nicht aber Religion an sich.
Was ist die fünfte Welle? Weltweit sind charismatische Bewegungen im Vormarsch, doch was haben wir in Europa zu erwarten? Blickt man auf die gegenwärtige Religiosität der Schweizerinnen und Schweizer, so lässt sich zunächst erkennen, dass die Religion unter den Bedingungen der Moderne überraschender Weise in einigen Bereichen animistische Bestände wieder aufleben lässt. 43% glauben an Engel oder übernatürlichen Wesen, die über uns wachen. 18% glauben an die Wiedergeburt und ebenso viele an die Kontaktaufnahme mit Geistern der Verstorbenen. 44% halten Hellseherei und Wunderheilungen für möglich. Doch es ist nicht zu erwarten, dass dieses derzeit beobachtbare Revival einer fundamentalen natürlichen Religiosität nachhaltig oder übergreifend breitenwirksam sein wird. Es steht vielmehr für eine Cafeteria-Religion der gesellschaftlichen Deregulierung im weiteren Gefolge der Umwälzungen von 1968, in der sich gegenwärtig jeder und jede zusammenstellen kann, was ihm oder ihr sinnvoll erscheint. Aber es steht zu bezweifeln, dass diese selbstgemachten Systeme überleben werden. Religionen, die nur individuelle spirituelle Bedürfnisse befriedigen, werden bald als unzureichend erlebt, denn Religionen müssen Orientierungssysteme bereitstellen, die über die Förderung individuellen Wohlbefindens hinausreichen und auf das Ganze der Wirklichkeit als einen möglichen – nicht abgeschlossenen – Sinnzusammenhang ausgreifen. Religion ist nicht nur Emotion, sondern auch Kognition, und sie ist auf Gemeinschaft angewiesen.
Die anthropologisch invariablen Grundpfeiler der Religion, die ihre Zukunft bestimmen werden, betreffen sowohl die soziale wie auch die individuelle Ebene. Die in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückgehende Ultrasozialität der Menschen ist einer der wichtigsten Existenzfaktoren der Religion: Prosoziales Verhalten war und ist für den Erhalt der Species Mensch seit der Ära der Jäger und Sammler von entscheidender Bedeutung. Mit dem Aufkommen differenzierter und mehr und mehr ungleicher Gesellschaften fiel der Religion die Aufgabe zu, deren Zusammenhalt jenseits der wirtschaftlichen und politischen Interessen der Eliten abzusichern, auch wenn diese die Religion nur allzu oft für diese Interessen missbrauchten. Doch es ist besonders der Fokus auf die Zuwendung zu den Armen und Schwachen gewesen, der aus der kleinen jüdischen Sekte des Urchristentums innerhalb weniger Jahrhunderte die bis heute grösste Weltreligion gemacht hat, der gegenwärtig zwei von drei Erdenbürgerinnen und Erdenbürger anhängen: Die Menschen damals wie heute waren von der Idee der Prosozialität gegenüber den Schwächsten und der prinzipiellen Aufhebung gesellschaftlicher Klassengrenzen fasziniert, weil diese Präferenz gewissermassen zu ihrer kulturellen DNA gehört. Der scheinbar lokale Misserfolg der christlichen Kirchen in Mittel- und Westeuropa ist vor diesem Hintergrund zu relativieren: Europa hat mit der unbestrittenen Etablierung der sozialen Marktwirtschaft grundlegende Anliegen des Christentums im Staat implementiert, so dass das Christentum hier durchaus erfolgreich war, seine Ideen sind aber zum Teil im Staat aufgegangen.
Auf der individueller Ebene dürfte das menschliche Wissen um die Zufälligkeit und die Endlichkeit der eigenen Existenz den weiteren Fortbestand der Religion prägen. Niemand kann sich sein Leben selbst geben oder aussuchen, wann oder wo er oder sie geboren wird. Und bislang ist es auch niemandem möglich, wesentlich länger als die biblisch als Grenze gesetzten (vgl. Genesis 6,3) 120 Jahre auf dieser Welt zu bleiben. Diese Kontingenzen sind nicht reduzierbar oder gar ausschaltbar. Jeder erwachsene Mensch muss Wege finden, sich mit Hilfe seines eigenen Denkvermögens, aber auch mittels der ihm zugänglichen Traditionen, eine sinnvolle Perspektive auf sein zufälliges und begrenztes Leben zu finden. Interessanterweise sind es bei Sterbenden, die auf ihr Leben zurückblicken und auf ihre Versäumnisse zu sprechen kommen, vor allem Elemente fehlender Sozialität, sowohl in der Familie wie auch unter Freunden, die genannt werden. Die zweite und die vierte Welle der Religionsgeschichte zumindest im europäischen Kontext machen es wahrscheinlich, dass die kritische Reflexion und die Vermittlung religiöser mit nichtreligiösen Wahrheitsansprüchen zukünftige Religiosität ebenfalls substantiell beeinflussen wird.
Wie also könnte die fünfte Welle der Religionsgeschichte in Europa aussehen? Wir können es natürlich nicht wissen, doch es ist zu erwarten, dass sie die menschliche Ultrasozialität, die Zufälligkeit der menschlichen Existenz sowie deren kritische Reflexion in den Vordergrund rücken wird. Die Religionsgemeinschaften in Europa, aber auch anderswo auf der Welt, sind gut beraten, ihre Theologien sozial- und lebensrelevant auszurichten und sich dabei an den höchsten intellektuellen Standards messen zu lassen, wenn die Religionen ihr lebensorientierendes und ihr sozialpolitisches Potential nicht brach liegen lassen wollen. Und wenn sie dies nicht aktiv selbst verfolgen, so steht zu erwarten, dass die kulturelle Evolution darum besorgt sein wird.
What Happens When Gifted Theologians Read ‘The Commentary’?
This:
That’s right. After having read a couple of the volumes in the series, both John Calvin and John Owen were brought to the point of smiling. And that had never happened before.
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The ‘Person in the Pew’ commentary series is the only series of Commentaries in modern history written by a single person on the entire Bible and aimed at layfolk . Everyone needs a commentary on the Bible that they can understand and that answers their questions about the meaning of the text. So I wrote one.
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