
First published in 2021:
Heute vor 100 Jahren demissionierte Leonhard Ragaz, eine der Gründergestalten des religiösen Sozialismus in der Schweiz, als Professor von der Universität Zürich. Er wurde am 28. Juli 1868 in Tamins in Graubünden geboren. Dort kam er durch die genossenschaftliche und direktdemokratische Prägung der Gemeinde früh in Kontakt mit der Politik.
Er studierte dann Theologie in Basel (1886–1888 und 1889–1990), Jena (1888–1889) und Berlin (1889) – weil dafür ein Stipendium erhältlich war – und war zunächst fest im religiösen und politischen Freisinn der damaligen Zeit verankert. Er wirkte ab 1895 in Chur als Pfarrer, wo er sich besonders der Armenfürsorge und dem Kampf gegen den Alkoholismus zuwandte, bevor er 1902 an das Basler Münster kam. In der Basler Zeit las er die Schriften des Zürcher Pfarrers Hermann Kutter, doch es waren auch eigene Erfahrungen, die ihn auf den Pfad des religiösen Sozialismus brachten.
Eine Episode schien besonders prägend für ihn geworden zu sein: In einer Zugfahrt von Bern nach Basel hörte er, wie ein junger Kaufmann sich damit brüstete, in Zürich eine junge Bündnerin verführt zu haben. Er schrieb im Nachhinein über dieses Erlebnis: „[D]as einfache Volk [ist] so viel besser als diese schmutzige Burgeoisie. Zu diesen Leuten gehe ich. Nun ist mir ein neues soziales Christentum aufgegangen. Ich datiere vom 2. Februar 1903 (morgens zwischen sieben und acht Uhr) eine neue Periode meines Lebens. Es ist unter viel Erfahrungen und Stimmungen des letzten Jahres eine Frucht reif geworden.“ In Basel fand am 5. Mai 1903 der Maurerstreik statt, den Ragaz sehr beschäftigte und den er in einer Predigt reflektierte. Ragaz gewann mehr und mehr das Vertrauen der Positiven – d.h. der konservativen Richtung innerhalb des reformierten Christentums -, was sich allerdings bei einem ersten Berufungsverfahren auf eine systematisch-theologische Professur in Basel, in das auch Rudolf Otto als Kandidat involviert war, bei der mehrheitlich liberal ausgerichteten Fakultät nachteilig für ihn auswirkte (1905).
Bald engagierte er sich für den Religiösen Sozialismus. Ab 1906 publizierte er fast tausend Artikel in der Zeitschrift «Neue Wege», dem publizistischen Organ des Religiösen Sozialismus. 1908 wurde er Professor für Systematische und Praktische Theologie in Zürich, 1913 trat er, unter dem Eindruck des Zürcher Generalstreiks (12. Juli 1912), der Sozialdemokratischen Partei bei. Über dreizehn Jahre hinweg wirkte er in Zürich, bevor er die Fakultät mit einem Paukenschlag verliess: 1921 reichte Ragaz von sich aus die Demission als Professor ein. Er sah in seinem Verzicht auf das akademische Lehramt die zwingende Konsequenz seines vorangehenden Lebenswegs und bezeichnete seinen Weggang von der Professur als „die reife Frucht meiner ganzen Entwicklung.“
Schon am 14. April 1918 hatte er seiner Frau Clara Ragaz-Nadig geschrieben: „Wäre nicht die Rücksicht auf die Kinder gewesen, so hätte ich schon vor sechs Jahren die Professur aufgegeben und wäre Fabrikarbeiter geworden.“ Allerdings gab es auch andere, direktere Auslöser, die Ragaz zu diesem Schritt bewogen hatten: Im Sommersemester 1919 hielt Ragaz seine öffentliche Vorlesung über „Universitäts- und Studienprobleme“, die 1920 unter dem Titel „Die Pädagogische Revolution“ in Buchform erschien. In ihr sprach er seine Frustration über die geistige Verfassung der Universität aus und griff die Universität scharf an: „Die Universitäten konnten keine geistige Führung geben, weil sie keinen Geist haben.“
Der Universität und den übergeordneten kantonalen Behörden blieben diese Ausfälle vonseiten Ragaz’ nicht verborgen. Die Hochschulkommission hatte 1920 über eine weitere sechsjährige Amtsdauer für Ragaz zu befinden und erkannte zwar, dass „Professor Ragaz offen und ehrlich mit Mut und Hingabe für seine Überzeugung einsteht und daß er gewissermaßen als Brücke und als Bindeglied zwischen dem akademischen Lehrkörper und den radikalen Elementen der Studentenschaft eine selbstlose und aufopfernde Tätigkeit entfaltet“. Gleichzeitig wurde aber beanstandet, dass er die „Universität, an der er zu wirken berufen ist, in seiner ‹Revolution der Pädagogik› verlästert, ohne greifbare positive Vorschläge zur Behebung der gerügten Mißstände zu machen.“
Nach gesundheitlichen Problemen, die im Herbst 1920 eine Beurlaubung nötig machten, begann er im Frühjahr 1921 noch mit den Lehrveranstaltungen des Semesters; mitten darin, am 24. Mai 1921, verfasste er dann aber sein Demissionsgesuch. Als Grund gab Ragaz in diesem Schreiben weder religiöse Zweifel noch seine Kritik an der Universität an, sondern er „musste aus der Kirche heraus, musste Christus ‹in freier Luft› dienen, ohne Bindung an Staat, Kirche und Gesellschaft“. 1921 setzten sich die Studenten erfolglos bei Behörden und Dozenten dafür ein, dass Leonhard Ragaz der Fakultät weiterhin erhalten bleibe. Der Rücktritt Ragaz’ fand grosse Beachtung und wurde auch in der ausseruniversitären Öffentlichkeit breit diskutiert, so etwa in der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Ludwig Köhler etwa sah sich zur Klarstellung genötigt: „Ragaz ist weder auf äußern Druck hin, noch wegen der ungünstigen Urteile, die, sei es mit teilweisem Recht, sei es gänzlich zu Unrecht, über seine Lehrtätigkeit gefällt wurden, noch wegen Unstimmigkeiten mit seinen Fakultätskollegen, wie sie ein deutsches Blatt vermutet, zurückgetreten, sondern lediglich aus Gewissensgründen, über die er sich in seinem Entlassungsgesuch, das wohl einmal veröffentlicht wird, äußert.“
Ragaz zog vom Zürichberg nach Aussersihl, einem Arbeiterquartier, und gründete dort die Volksschule „Arbeit und Bildung“, deren Erfolg jedoch bescheiden blieb. Bemerkenswert ist sein Eintreten für das Judentum in einem 1921 gehaltenen Vortrag „Judentum und Christentum. Ein Wort zur Verständigung“, in dem er sich von der traditionellen christlichen Vorstellung der Judenmission verabschiedete und Judentum und Christentum als gleichwertig behandelte.
Damit war er ein Vorreiter des jüdisch-christlichen Dialogs, wie nach ihm auch Arthur Rich. Für sein schriftstellerisches Wirken wurde Ragaz mit dem Literaturpreis der Stadt Zürich geehrt. Am 6. Dezember 1945 starb er in Zürich.
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